Hintergrund: Am Rande des Stadtfestes in Chemnitz wurde der 35-jährige Daniel H. zum Opfer eines Gewaltverbrechens und verstarb. Was folgte? Rechtsradikale Aufmärsche, linke Gegendemonstrationen und allgemein: viel Chaos und Entsetzen. (Quelle: Focus Online)
Ich wohne seit nun gut drei Jahren in Chemnitz und habe diese Stadt mit all ihren grauen Häuserfassaden und der Tristesse kennen und lieben gelernt und finde mich langsam mit dem Gedanken ab, hier wohl nicht mehr wegziehen zu wollen. Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich mich zu den Geschehnissen der vergangenen Tage äußern. Und weil ich gemerkt habe, dass Instagram nicht die richtige Plattform ist, um meinen Standpunkt ausführlich genug vertreten zu können, wurde es nach einer halben Ewigkeit mal wieder Zeit für einen Blogpost.
„Wenn man weder auf der einen, noch auf der anderen Seite steht, was hat man denn dann für eine Meinung?“ – Als ich diese Frage als Antwort auf meine Instagram-Story las, in der ich meine Bedenken zu den in Chemnitz stattfindenden Demonstrationen geteilt hatte, musste ich kurz schlucken. Denn im Endeffekt bekräftigte sie nur das, was ich schon die ganzen letzten Tage dachte: Deine Stimme scheint nur noch zu zählen, wenn du dich auf eine der beiden Lager schlägst. Und ganz ehrlich, da schrillen bei mir alle Alarmglocken.
Schwarz-Weiß-Denken und „Ganz oder gar nicht“ war noch nie ein Teil von mir und ich habe schon immer daran geglaubt, dass die Wahrheit irgendwo in der goldenen Mitte versteckt liegt. Sprich: Ich bin nicht rechts. Ich bin aber auch nicht links. Ich wähle weder die AfD noch Die Linke, habe aber doch trotzdem eine klare Meinung:
1 Ich bin gegen Radikalität. Es ist mir dabei vollkommen gleichgültig, ob diese von Faschisten oder Antifaschisten ausgeht. Rücksichtsloses Verhalten und Gewalt sind und sollten niemals eine Lösung sein. Genauso, wie es keine Lösung ist, den Mord eines Menschen für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.
2 Ich bin für Reflektiertheit. Und damit meine ich Hinhören. Nicht blind mitklatschen und alles bejubeln, was auf einer Demo gesagt wird, nur, weil das alle tun – auch dann nicht, wenn man grundsätzlich die gleiche Ansicht vertritt. Es macht einen Unterschied, wie Inhalte vermittelt werden, und zwar einen großen.
Nicht zuletzt ist das auch der Grund, warum ich nicht zu den Demonstrationen gegen AfD, ProChemnitz und Co. gegangen bin. Für mich ging gerade bei den Veranstaltungen am vergangenen Wochenende der eigentliche Sinn verloren – nämlich, dass sich politisch etwas ändern muss. Stattdessen stand im Fokus, sich gegenseitig Hass und Abneigung an den Kopf zu werfen. Natürlich kann auch ich mich hinstellen und laut herausschreien, wie scheiße ich Nazis finde (und ganz ehrlich, das würde ich manchmal wirklich gern), aber Fakt ist, dass das an der Gesamtsituation rein gar nichts ändert. Entscheidend sind und bleiben am Ende die Ergebnisse der nächsten Wahlen.
3 Ich bin für Liebe. Ich spreche mich aus für Toleranz, Menschlichkeit und Respekt. Ich bin für offen sein, für sich bilden, für konstruktive Diskussionen. Und besonders bin ich dafür, Hand in Hand nebeneinander zu stehen, zart zu sein und Hass mit Liebe zu begegnen.
Und trotzdem war ich gestern nicht bei #wirsindmehr.
Warum? Nicht, weil ich nicht grundsätzlich die gleichen Werte vertrete, sondern, weil ich mir nicht sicher war, wie diese vermittelt werden würden. Den Live-Stream habe ich mir trotzdem angeschaut. Ich war begeistert von den Dialogen, die zwischen den Show-Acts hinter der Bühne mit Künstlern und Anwohnern stattfanden. Weil Politik ein Thema war, Europa und die deutsche Regierung. All das, was mir die vergangenen Tage zwischen den stumpfsinnigen Anfeindungen untereinander gefehlt hatte. Und davon mal abgesehen: 65.000 Menschen, die friedlich neben- und miteinander ihre Herzen tanzen ließen. Das Event war entgegen meiner Befürchtungen sehr gut durchdacht und hat ein positives Zeichen gesetzt.
Trotzdem bereue ich es nicht, nicht hingegangen zu sein, denn zumindest auf und vor der Bühne war es mir doch zu viel „Alerta, alerta! Antifascista!“ und zu wenig goldene Mitte.
Was am Ende jetzt bleibt und wir uns im Herzen behalten müssen:
Wir sind nicht mehr, wir sind eins. Wir stehen nebeneinander und für unsere Meinung ein. Müssen den Mut haben, darüber zu sprechen und miteinander zu sprechen. Konstruktiv, reflektiert und verständnisvoll. Dürfen nicht zu schnell verurteilen – weder etwas, das getan wird, noch etwas, das nicht getan wird. Hinterfragen. Wir müssen zuhören, verstehen und uns informieren. Gemeinsam, mit Liebe und Verstand.
